Der Blutegel

Wenn es auch in die heutige Medizin kaum zu passen scheint: Blutegel sind wieder zu einem Bestandteil der medizinischen Versorgung geworden.
Seit Menschen einander heilen, spielen Blutegel (Hirudo medicinalis) eine fast immer bedeutende Rolle. Es ist sogar anzunehmen, daß auch Tiere von den heilenden Wirkungen der Egel profitieren. Das Wort „Egel“ stammt übrigens von dem griechischen Wort echis = kleine Schlange. Manche vermuten sogar, daß die Schlange des Aeskulapstabes einen Egel darstellt. Er ist jedenfalls schon lange für seine Heilkräfte berühmt.
Bei den Germanen wurde das Wort „Blutegel“ z.B. nahezu synonym mit dem Wort „Heiler“ verwendet.
Dhanvantari, der indische Gott des Ayurveda, trägt einen Blutegel in einer seiner vier Hände, und im englischen wurden die Heiler des Mittelalters als „leecher“ (leech (engl.) = Blutegel) bezeichnet. Nach einer ca. 100 Jahre dauernden Zwangspause (bis ~1975) – die durch die Folgen abusushafter Mißbräuche im letzten Jahrhundert („Vampyrismus“), mangelndes Wissen und vorurteile begründet war – haben sie heute ihre „Approbatrion“ als Heiler und als lebende Apotheken zurück.
Die rekonstruktive Chirurgie hat die sensiblen Blutsauger in den 80er Jahren wiederentdeckt, als das abgerissene Ohr eines kleinen Jungen nur durch ihre Hilfe wieder anwachsen konnte. Seitdem erleben sie eine Renaissance in der Heilkunst. Die moderne Biochemie hat so viele Wirksubstanzen und deren Wirkmechanismen im Blutegelspeichel aufgeklärt, daß die Vermutung, die Heilwirkung der Blutegel sei mittelalterlicher Aberglaube selbst ins Reich des Aberglaubens fällt.
Experten vergleichen die Bedeutung des Hirudins et al. (Wirkstoffe aus dem Blutegelspeichel) gar mit der des Penicillins, natürlich bei einem völlig anderen Wirkungsspektrum.

Mit Vorurteilen leben diese Sauger seit langem, das ist – wenn man sie nur ungenügend kennt – verständlich, wenn sie auch kaum ihrem von Menschen geprägten Image entsprechen. Das ist leider denkbar schlecht … leider sind sie nicht nur als Heiler berühmt, sondern auch als Blutsauger berüchtigt. Allerdings leben Egel, gemessen am Menschen, recht passabel:

sie sind nicht gierig: eine Mahlzeit genügt für 1-2 Jahre (wer kann das schon von sich behaupten?)
sie besiedeln nur reinstes Wasser.
sie sind schön: ihr Rückenzeichen ist einmalig, und ihr eleganter Schwimmstil gleicht dem eines Delphins.
ihr Biß ist wenig schmerzhaft.
sie reinigen die von ihnen gesetzte, sternförmige Wunde.
ihre Speicheldrüsen sind frei von Krankheitskeimen.
Vorurteile haben sie offenbar in ihrer weit mehr als 450 Millionen Jahren (hier verlieren sich ihre Spuren in der Entwicklungsgeschichte) währenden Entwicklung nicht davon abgehalten, durch ständige „Innovationen“ heilende Wirkungen bei denen zu entfalten, von denen sie etwas wollen: uns Säugetieren.

Das Leben der Blutegel

Der medizinische Blutegel ist ein Ringelwurm und mit dem Regenwurm verwandt. Am hinteren Körperende befindet sich ein Saugnapf, mit dem sich der Egel festhält, am vorderen Körperteil befindet sich der Mund mit einer Saugöffnung, drei strahlenförmig angeordneten Kiefern, die über 80 Kalkzähnchen verfügen. Der Blutegel ist dunkelgrün und weist an beiden Seiten drei braune Längsstreifen auf. Während der Egel an Land seine Saugnäpfe zur Fortbewegung benutzt, gleicht er im Wasser in seinen Bewegungen einem Delfin. Blutegel sind Zwitter, sie befruchten sich gegenseitig zwischen April und Oktober. Nach der Befruchtung werden ungefähr 30 Eier in Kokons eingesponnen und in die feuchte Ufererde abgelegt. Hieraus schlüpfen nach etwa sechs Wochen die jungen Egel. Blutegel können bis zu 20 Jahre alt werden und können dann ausgewachsen und gestreckt sogar eine Länge von über 10 cm und ein Gewicht von bis zu 30 Gramm erreichen.
Ihre Opfer erkennen sie durch Bewegungen im Wasser. Während junge Egel vom Blut von Wassertieren (z.B. Frösche, Fische) speisen, versuchen die älteren Tiere, Blut von Säugetieren zu saugen, wodurch ihr Fortpflanzungsfähigkeit verbessert wird. Hat der Egel ein Opfer gefunden, fixiert er sich mit dem hinteren Saugnapf auf der Oberfläche und sägt mit seinem Kiefer in die Haut. Während des Saugens, das 30-60 Minuten dauert, sondert der Egel Speichel in die Wunde ab, der dafür sorgt, daß die Wunde offen bleibt und das Blut fließt. Nachdem der Egel fertig gesaugt hat, läßt er von selbst los. Sein Gewicht hat sich nun verdreifacht und er ist erst nach einer Woche wieder schwimmfähig. Das blut wird über 1 1/2 Jahre verdaut. Nach einigen Monaten Nahrungskarenz ist der Blutegel bereit für einen neuen Biss.
Blutegel stehen in Deutschland unter Naturschutz. Für den medizinischen Gebrauch werden sie von Spezialanbietern unter strengen hygienischen Bedingungen gezüchtet. In der Praxis oder im Krankenhaus werden sie in sauberen Gefäßen aus Ton, Glas oder lebensmittelechtem Kunststoff in klarem chlorfreien Wasser in dunkler Umgebung gehalten. Das Gefäß sollte über kleine Luftlöcher verfügen, das Wasser wird alle 2-3 Tage gewechselt, da sich die gesunden Egel in diesem Rhythmus häuten.

Blutegel-Speichel

Bislang ist noch unklar, worauf die schmerzstillende Wirkung der Blutegel beruht. Experten glauben, daß sich das Geheimnis im Speichel der Egel verbirgt. bislang kennt man nur die wichtigsten Inhaltsstoffe: Die Eiweißverbindungen Hirudin und Calin sorgen für die Hemmung der Blutgerinnung, damit das blut ungestört fließt und vom Egel aufgesogen werden kann. Hyaluronidase wirkt Gewebe aufweichend. weitere identifizierte Substanzen erweitern die Blutgefäße und hemmen Entzündungsprozesse. Von der Auffindung der schmerzstillenden Substanzen erhofft man sich die Herstellung wirksamer Medikamente die dann den blutigen Einsatz der Egel unnötig machen. vielleicht liegt die besondere Wirkung aber gerade in der besonderen Mischung der Speichelsubstanzen, und der Egel ist unabkömmlich.

Indikationen und Wirkungsweise

Die zunächst überraschend erscheinende Heilwirkung ist ein „kluger“ Schachzug der Egel, denn damit fördern sie ihre wertvolle Ressource, die Säugetiere – das ist natürlich besser, als sie zu schädigen. Überspitzt ökologisch formuliert ein schönes Beispiel für eine gelungene „nachhaltige Nutzung“, für ein ausgewogenes Geben und Nehmen. Wissenschaft und Pharmaindustrie haben seit langem erkannt, was die Evolution für einen komplexen und wunderbaren Wirkstoffcocktail mit dem Blutegelspeichel hervorgebracht hat, der in geradezu „genialer“ Weise in die komplizierte Gerinnungskaskade des Blutes eingreift. Und da blut in irgendeiner Weise mit allen Erkrankungen zusammenhängt, haben Blutegel durch den Aderlaß und ihre Wirkstoffe einen breiten Indikationsbereich.

Bei welchen Krankheiten werden Blutegel verwendet?

  • Kniegelenkarthrose
  • Schultergelenkarthrose
  • Daumengrundgelenkarthrose
  • Sprunggelenkarthrose
  • Tennisellenbogen
  • Rückenschmerzen (Lumbago)
  • Verbesserung der Wundheilung
  • Entzündungen und Abszesse
  • Furunkel und Karbunkel
  • Postthrombotisches Syndrom
  • Thrombophlebitis (rezidivierend)
  • Rheuma
  • Herpes Zoster (Gürtelrose)
  • Nebenhöhlenentzündungen
  • Varikosis
  • Tinnitus
  • Mandelabszeß
  • Adnexitis, Parametritis
  • Brustdrüsenentzündung
  • Gallenblasenentzündung
  • Hodenentzündung
  • Phlebitis
  • Depressionen
  • Hypertonie
  • Hyperthyreose
  • Apoplexie
  • Angina pectoris
  • plastische und rekonstruktive Chirurgie

Wann darf die Blutegelbehandlung nicht durchgeführt werden?

  • Blutgerinnungsstörungen (z.B. „Bluter“)
  • Therapie mit Marcumar, ASS, Heparin (ggf. zuvor pausieren)
  • Allergie gegen Blutegel (Hirudin)
  • Blutarmut
  • Blutgerinnungsstörungen
  • Immunsuppression (z.B. Kortison nach Transplantation)
  • Schwere Nieren- oder Lebererkrankungen
  • Arterielle Durchblutungsstörung im Behandlungsareal
  • Mangelndes Einverständnis und Mitwirkung des Patienten